Liebes Tagebuch, Montag, 11.04.2011
Ich verstehe diese Welt nicht. Das ganze System, die Gesellschaft, die Norm nach der wir leben, ohne es wirklich zu merken. Ich habe das Gefühl, unter einem enormen Druck zu leiden, dabei ist mein Leben eigentlich voll easy. Was heißt eigentlich enorm? eNORM. Die Norm, was ist das? Meine Freundin meinte zu mir, ich wäre nicht normal, was ist denn normal? Ist es normal, Geld für Klamotten aus dem Fenster zu werfen, statt für eine gesunde, umweltfreundliche Ernährung? Gut, dann bin ich halt nicht „normal“, dann möchte ich es auch gar nicht sein.
Wie gesagt, mein Leben ist nicht anstrengend, trotzdem habe ich das Gefühl. Ich gehe Montag-Freitag von 8:oo-13:20 Uhr zur Schule und hab genügend Freizeit. Obwohl ich diese meistens im Internet „verschwende“, wie es meine Mutter ausdrücken würde. Aber es ist das, was ich liebe, es macht mir Spaß, also ist es doch okay. Wenn ich meine Zeit mit Dingen verbringe, die ich mag, kann es doch nur richtig sein. Oder?

Liebes Tagebuch, Freitag, 15.04.2011
Heute habe ich meine Oma im Krankenhaus besucht, ich habe mich selber dabei erwischt wie ich sie so anders behandelt habe. Ist es, weil sie in diesem Krankenbett lag und so schwach wirkte? Hat mein Kopf da automatisch geschaltet und gedacht: Ally, da liegt jetzt eine alte zerbrechliche Dame vor dir. Das ist nicht mehr die starke, redegewandte Omi, die sie mal war! Dann habe ich gemerkt, es gibt noch etwas Anderes, was mich am älter werden stört und manchmal sogar traurig macht. Was ist denn dann, wenn ich alt bin. Mein Körper wird sich sichtlich verändert haben und damit auch die Sicht der Gesellschaft auf mich. Sie werden denken, ich bin eine alte, zerbrechliche Dame, die in ihrem Leben viel erlebt hat, aber das will ich nicht! Die Jahre, die vergangen sind, hinterlassen Spuren. Körperlich, aber auch seelisch? Ich fürchte mich vor dem Gedanken, dass mein Charakter gleich bleibt, aber alle mich anders behandeln. Ich werde dann zwar nicht mehr so beweglich sein, aber ich bin doch immer noch die gleiche Ally, oder? Ich möchte nicht so behandelt werden, als könnte ich jeden Moment kaputtgehen, wie ein mühsam gebautes Kartenhaus. Oft denke ich, es wäre besser, gar nicht erst alt zu werden und das alles durchleben zu müssen. Vielleicht werde ich sogar starke Schmerzen haben und vor mich hin leiden, da ist mir doch die Vorstellung lieber, selber entscheiden zu können, wie ich in den Köpfen der Menschen bleibe. Lieber sterbe ich als die vorlaute, selbstbewusste Ally, als von allen umsorgt zu werden als wäre ich eine Porzellanpuppe.

Liebes Tagebuch, Samstag, 16.04.2011
Was ist denn der Sinn des Lebens? Eine häufig gestellte Frage und was ist die Antwort? Ich glaube, man kann nicht einfach so eine formulieren, man muss sich selber fragen: Was möchte ich in meinem Leben erreichen? Welche Aufgabe will ich mir selber geben? Jeder sollte seinen ganz eigenen Sinn des Lebens finden. Wichtig ist nur zu hinterfragen, wie man sein Leben führen möchte. Wirklich nach dem Stereotypen oder ganz individuell? Diese Fragen schwirren mir seit meiner kleinen Busbegegnung heute durch den Kopf. Auf dem Weg von der Bücherei nach Hause saß ein Mann neben mir. Er hatte einen ziemlich teuer aussehenden Anzug an und war wild am gestikulieren, während er telefonierte. Die Art und Weise, wie er sprach, klang so lebendig und konzentriert, aber ich konnte ihn sehen. Die Person, mit der er telefonierte, konnte nur diesen Eindruck aus seiner Stimme bekommen. Ich sah den Mann hinter dieser so lebendigen Rede, er wirkte so unglaublich müde. Man konnte ihm förmlich ansehen, dass er eine harte Woche hinter sich hatte. Sein ganzes Auftreten machte den Eindruck, sein Leben wäre schon gänzlich durchgeplant. Sein Anzug, die ordentlichen Haare, das alles zeigte mir, dass sein Leben einen festen Ablauf zu haben schien. Jeden Tag das gleiche und wieder und wieder. Doch das schien ihn nicht glücklich zu machen, verständlicher Weise, das würde es mich auch nicht.
Ich glaube, es gibt keine To-Do-Liste für das Leben. Obwohl viele nach einer unausgesprochenen leben:
1.Schule abschließen (am besten mit dem höchsten Abschluss)
2.Arbeit finden (die gut bezahlt ist, scheiß egal, ob sie dir Spaß macht!)
3.Familie gründen
4.Rente (jetzt bist du zu nichts mehr zu gebrauchen, da du immer nur für deine Arbeit gelebt hast, die du gar nicht mit Leidenschaft machst. Herzlichen Glückwunsch!)
5.Sterben
Eins kann ich euch sagen, ich möchte das nicht. Ich finde es unglaublich, dass es eine Art Zwang gibt, einen Sog, der einen immer weiter Richtung Norm zieht.

Liebes Tagebuch, Dienstag, 26.04.2011
Es ist genau 23:59 Uhr, viel zu spät, wenn man den Fakt beachtet, dass ich morgen Schule habe. Trotzdem sitze ich hier, an meinem Fenster und betrachte den Nachthimmel. Ich bin oft Nachts wach, vielleicht ist das auch der Grund, für meine blasse Haut. Es hört sich vielleicht komisch an, doch manchmal fühle ich mich wie der Mond. Also ich fühle mich nicht wirklich wie eine riesige Kugel mit Kratern, die besseren Worte sind wohl eher, ich kann mich mit ihm identifizieren. Das hört sich nicht wirklich weniger komisch an, aber lass es mich erklären. Wir sehen den Mond nur Leuchten, da er von der Sonne angestrahlt wird. Er wird also immer von ihr abhängig sein, sonst wäre er für uns quasi unsichtbar. In gewisser Weise, steht der Mond aber auch im Schatten der Sonne, komisch wenn man betrachtet, dass er eigentlich in ihrem vollem Licht steht. Er steht in ihrem Schatten, weil sie immer wichtiger sein wird, als er. Der Mond wird immer abhängig von ihr sein. Es gibt Zeiten, da steht er mehr oder weniger im Vordergrund, manchmal ist voll zu sehen und manchmal fast überhaupt nicht.Ich fühle mich oft so, auch wenn das als Mensch eventuell gar nicht möglich ist. Ständig bekomme ich das Gefühl von Menschen abhängig zu sein, seien es meine Eltern oder auch Manu. Warum Manu, könnte man sich jetzt fragen. Es ist ganz einfach, ich liebe ihn so sehr (freundschaftlich, natürlich) und ich brauche ihn einfach. Ich kann mir nicht vorstellen was wäre, wenn er nicht mehr existieren würde. Aus welchem Grund auch immer. Manu ist immer für mich da, er gibt mir das Gefühl (oder wer weiß, vielleicht tut er es auch) mich zu verstehen. Außerdem gibt es verschiedene Phasen in meinem Leben, wie die Mondphasen, mal komm ich mir vor wie die Hauptfigur und mal wie eine unwichtige Nebenrolle ohne Text. Mal bin ich wichtig, mal weniger. So kommt es mir jeden Falls vor. In seinen eigenen Vorstellungen und Gedanken, wie andere einen sehen kann man sich auch schnell täuschen. Es ist mir schon so oft passiert. Ständig denke ich, ich wäre unsichtbar für die Leute in der Schule, sie würden einfach durch mich hindurch gehen und sehen. Dem ist jedoch nicht so, das merke ich immer wenn mir wieder komische Blicke geschenkt werden oder plötzlich irgendwer von meinen „Freunden“ mit mir reden möchte. Schade, in dieser Scheinwelt, wo alle mich ignorieren, ist es so viel schöner. Schöner als diese hässliche Realität, in der man blöde Sprüche zu hören bekommt.

Marie Lindert – Deinstein AG

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